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Krisen. Konsequenzen. Konzepte. - eine Rückschau auf das Forum Suchtprävention

Bereits zum 23. Mal hat das Bayerische Forum Suchtprävention stattgefunden. Organisiert und veranstaltet durch das Zentrum für Prävention und Gesundheitsförderung im LGL kamen am 6. und 7. Oktober 2021 die Suchtpräventionsfachkräfte des ÖGD und der freien Träger in Bayern sowie weitere Interessierte auf digitalem Wege zusammen. Rund 160 Teilnehmende verfolgten an beiden Tagen informative Vorträge und Praxisberichte.

„Die Corona-Krise bringt zahlreiche Änderungen mit sich, dies spiegelt sich auch im Tagungsspektrum wider“, so Prof. Dr. Bernhard Liebl, Bereichsleiter am Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, bei der Eröffnung. Ein Grund, warum das Forum in diesem Jahr unter dem Motto „Krisen. Konsequenzen. Konzepte.“ steht. Neben Einflüssen auf das individuelle Gesundheitsverhalten sowie die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wurden innovative Lösungsstrategien aufgezeigt. Denn neben Veränderungen & Herausforderungen bietet die Krise neue Gelegenheiten - auch für die Präventionsarbeit, wie zahlreiche Beispiele eindrücklich zeigen.

Digitale Gesundheitskompetenz – eine Anforderung im Lastenheft der Prävention?!

Vor allem der Themenkomplex Digitalisierung gewinnt im öffentlichen und fachlichen Interesse an Bedeutung. Der Nutzen digitaler Angebote aber auch Konsequenzen wurden im Rahmen des Suchtforums beleuchtet und diskutiert.

Zunahme der Mediennutzung und Dauer in Zeiten der Pandemie

Langeweile, die steigende Nachfrage nach Informationen zum aktuellen Geschehen, Ablenkung oder die Suche nach Hilfe – es gibt zahlreiche Gründe auf eine Bandbreite von digitalen Angeboten zurückzugreifen.

Mit der JIM und der JIMplus Studie 2020 stehen repräsentative Daten zum Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Krise bereit. Thomas Rathgeb, Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg, erläuterte die zentralsten Ergebnisse beider Befragungen. An der JIMplus Studie 2020 nahmen deutschsprachige Schülerinnen und Schüler im Alter von 12 bis 19 Jahren Anfang April 2020 während der ersten Schulschließungen teil. Verschiedene Bereiche wurden in den Blick genommen. So zeigt sich, dass die meisten Schülerinnen und Schüler zum Lernen auf YouTube und Wikipedia zurückgegriffen haben. Das Lernverhalten zeigt sich unter den Befragten als sehr ambivalent. Während 45 % weniger als zuvor lernen, widmeten sich zugleich 52 % mehr dem Lernen. Während der Schulschließungen haben das Anschauen von Videos bei YouTube, Musik hören und die Nutzung von Streaming-Diensten deutlich zugenommen. Die selbst geschätzte Nutzungszeit von YouTube und Gaming ist unter Jungen höher, während Mädchen neben dem Lernen die meiste Nutzungszeit für Streaming-Dienste und Musikhören aufwenden.

Die JIM Studie aus dem vergangenen Jahr zeigt außerdem, dass Medienabonnements und der Gerätebesitz hinsichtlich Laptop, Tablet und Smart TV unter den Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. In der Freizeit hat die Beschäftigung mit Online-Videos, Video-Streaming-Diensten, digitalem Spiel und dem Tablet an Bedeutung gewonnen. Neben der Frequenz lohnt ein Blick auf die Nutzungsdauer. So ist ein deutlicher Anstieg der geschätzten Spieldauer sowohl an Werktagen als auch an Wochenenden zu verzeichnen. Auch die tägliche Internet-Nutzungszeit macht von 205 Minuten im Jahr 2019 auf 258 Minuten im Jahr 2020 einen Sprung nach oben. Vor allem das Zeitkontingent für Spielen und Unterhaltung wächst an. Die Online-Nutzungszeit verteilt sich wie folgt: 34 % Unterhaltung, 28 % Spielen, 27 % Kommunikation, 11 % Informationssuche. Zur Kommunikation werden überwiegend WhatsApp, Instagram und Snapchat genutzt. Aber auch Tik Tok erlebt einen Bedeutungsgewinn unter Kindern und Jugendlichen. Ähnliches zeigt sich bei den beliebtesten Internetangeboten – die großen Plattformen YouTube, Instagram und WhatsApp führen die Rangliste an. Herr Rathgeb gibt zu bedenken, dass die unterschiedlichsten Interessen auf diesen Plattformen gleichartig daherkommen. Fake News, Nachrichten seriöser Anbieter, Posts mit wirtschaftlichen Interessen erscheinen in ähnlicher Art wie die von Freunden. Hinzu kommt, dass Nachrichten und Botschaften sehr verkürzt werden und polarisieren – nicht zuletzt durch #Hashtags.

All diese Entwicklungen setzen ein hohes Maß an Kompetenz voraus, sich auf diesen Plattformen zurecht zu finden. Häufig werden Kinder und Jugendliche als „digital natives“ bezeichnet. Doch alleine die „Bedienkompetenz“ zeichnet noch keine ausreichende Medienkompetenz aus. Es geht neben dem Finden von Informationen vor allem um die Einschätzung und Bewertung der Nachricht, ihrer Inhalte und des Absenders bzw. der Quelle.

Ein medienkritischer Umgang ist unter Kindern und Jugendlichen nicht selbstverständlich aber Voraussetzung für Medien- und digitale Gesundheitskompetenz. So resümiert Martin Heyn, Leiter des ZPG, dass die Vermittlung einer verantwortungsvollen Nutzung von Computerspielen und Internet fest in das Lastenheft der Präventionsfachkräfte verankert werden muss.

Nutzung digitaler Möglichkeiten von der Prävention bis zur Behandlung

Dr. Peter Tossmann führte ergänzend aus, dass die Entwicklungen im Bereich von e-Health durch Corona deutlich beschleunigt wurden. Ärzte, Fachgesellschaften, Krankenkassen, Apotheken und weitere machen sich digitale Zugangs- und Lösungswege zunehmend zu Nutze. Im Bereich der Suchthilfe werden visionäre Ziele für die kommenden Jahre angestrebt. Denn von universeller Prävention bis hin zur Behandlung kann es digitale Angebote seriöser und verlässlicher Anbieter geben um der Zielgruppe weitere Zugangswege für ein Mehr an Gesundheit zu ermöglichen. Online Programme zur Reduzierung des Alkohol- und Cannabiskonsums sind wirksam und erzielen kleine bzw. moderate Effekte – so das Resümee von Dr. Tossmann. Auch Bayern setzt künftig auf ergänzende Angebote der digitalen Suchthilfe.

Neben dem Thema der Digitalisierung standen weitere Themen im Fokus – lesen Sie nachfolgend mehr

Konsumänderungen während der Krise

Dr. Ekaterini Georgiadou, Klinik für Psychatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg, stellte in ihrem Vortrag neben dem internationalen Forschungsstand auch Ergebnisse einer eigens angelegten Erhebung während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 zu ausgewählten Verhaltensweisen vor. Hierzu zählten der Konsum von Alkohol, Tabak und Medien. Auch wenn der überwiegende Anteil der Befragten von keinen Konsumveränderungen berichtet hat, zeigt sich für einen bestimmten Anteil der Studienteilnehmenden eine Konsumveränderung bzw. sogar eine Zunahme. So stieg beispielsweise die Frequenz des Tabakkonsums bei 49,8% der Raucherinnen und Rauchern und die Frequenz des Alkoholkonsums bei 35,5% der Personen. Bei der Mediennutzung zeigte sich bei 71,4 % der Befragten eine Steigerung. Von Verhaltensänderungen betroffen sind vor allem die Personen, die gleichzeitig angegeben haben, höheren subjektiven Stress in dieser Zeit zu empfinden. Auch wenn ein höherer Konsum nicht  bedeutet, süchtig zu sein, so steigt das Risiko bei höherem Konsum. Aus diesem Grund war und ist die psychische Gesundheit ein wichtiges Element des Pandemie-Managements.

Hürden, Erfolge & neue Zugangswege – Konzepte in und aus der Krise

Beispiele aus der Praxis demonstrierten eindrucksvoll, wie erfolgreiche Suchtprävention auch unter Krisenbedingungen gelingen kann. Hierfür war oftmals ein Um- und Weiterdenken erforderlich. Viele Formate wurden digitalisiert und in ein virtuelles Format übertragen. Irmgard Salvador, Aktion Jugendschutz – Landesarbeitsstelle Bayern e.V., hat die Entwicklung des seit 20 Jahren bestehenden Konzepts „ELTERNTALK“ zu „ELTERNTALK online“ dargestellt . Das Format ermöglicht die Begleitung und den Austausch der Eltern trotz Kontaktbeschränkungen. Die Resonanz spricht für sich: Neue Eltern sind hinzugekommen und schätzen vor allem den einfachen, zwanglosen Zugangsweg. Auch zukünftig wird das virtuelle Format den analogen Elterntalk ergänzen.

Svenja Schüürmann, Condrobs e.V., referierte, wie das klassische Streetwork von ConAction ins Netz verlagert wurde. Neben der Aufklärung, Informationsarbeit und dem aufsuchenden Ansatz in Foren und auf Social-Media-Kanälen etablierte sich ein gesicherter Live-Chat, in dem sich Jugendliche mit den Mitarbeitenden von ConAction vertraulich austauschen können.

Auch das Projekt Mindzone erschloss neue digitale Wege. Auch wenn der Lockdown laut Sonia Nunes die größte Herausforderung der letzten 25 Jahre war, so hat er dem Projekt rückblickend neuen Schub verliehen. Podcasts, Videos, der Ausbau der Telefonsprechstunde und die Online-Beratung gehören zu den neuen Angeboten, die auch weiterhin bestehen.

Für Anja Röhrig und Christin Ebert, Gesundheitsamt Ebersberg, war der Lockdown Startpunkt, die Webseite „SuchtLos“ zu entwickeln. Sie stellten sich den Herausforderungen, wie technische Hürden, rechtliche Grundlagen und die Bekanntmachung des Netzwerks, erfolgreich – Kommunikation war dabei der Schlüssel zum Erfolg. Die Webseite bündelt nun verschiedene Angebote zur universellen Prävention, Materialien und Informationen für verschiedene Zielgruppen.

Christin Hesse hat mit Blu:prevent ein Angebot vorgestellt, welches nicht erst durch Corona digital umgesetzt wird. Durch die Kombination einer App mit verschiedenen Themenwelten rund um die Suchtprävention und dem Modul Blu:interact konnte die Zielgruppe auch während der Krise gut erreicht werden.

Resilienz und psychische Gesundheit

Die Themen Resilienz und psychische Gesundheit stehen gerade in Zeiten der Krise im Fokus. Mit einer Schwerpunktsetzung auf Kinder und Jugendliche widmete sich auch das Suchtforum der Thematik. Dr. Omar Hahad, Leibniz Institut für Resilienzforschung, hat aufgezeigt, dass Resilienz auch während der Krise relativ stabil geblieben ist. Dies sei nicht verwunderlich, weil es sich bei der Resilienz allgemein um einen stabilen Wert handle. Stresssituationen können besser bewältigt werden, wenn neben den negativen Emotionen auch positive Emotionen zugelassen, erlebt und wahrgenommen werden. Für Kinder und Jugendliche sei es besonders wichtig, die sozialen Kompetenzen zu fördern, welche sich wiederum positiv auf die Selbstwirksamkeit auswirken.

Anknüpfend an diesen Vortrag hat Prof. Dr. Günther Opp appelliert, das subjektive Wohlbefinden der Kinder vermehrt in den Blick zu nehmen. Resilienz beruhe wesentlich auf sozialen Beziehungen, deren Bedeutung er unterstrich. Chronische Zurückweisung sei eine besonders schlimme Verletzung für Kinder. Beim indirekten pädagogischen Handlungsansatz der positiven Peerkultur werden die Peers, also gleichaltrige Kinder, in den Fokus gestellt. Erzieherinnen und Erzieher wirken hier nur unterstützend, indem sie den Lösungsfindungsprozess der Kinder moderieren.

Dass die Pandemie zu weitreichenden Belastungen im Alltag der Kinder und Jugendlichen geführt hat, ist unbestritten. Frau Dr. Ellen Greimel, Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie am LMU Klinikum in München, hat mit „Corona und Du“ eine Webseite vorgestellt, die Kinder und Jugendliche bei den Herausforderungen durch die Pandemie unterstützen soll. Dies geschieht durch die positive und ermunternde Ansprache der Jugendlichen, zielgruppengerechte Information und Tipps zur Prävention. Weiterhin hat Frau Dr. Greimel in ihrem Vortrag aufgezeigt, dass eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten, Belastungen und problematischer Verhaltensweisen festgestellt werden konnte und auch der Bedarf an Psychotherapie gestiegen ist. Die Erkenntnisse beruhen jedoch auf einer unzureichenden Datenbasis, es existieren zum Teil widersprüchliche Befunde und eine kontroverse Diskussion. Dies zeigt umso mehr, dass ein Ende der akuten Krise keinesfalls ein „weiter so“ bedeuten kann. Folgen – mittel- wie langfristig – müssen beobachtet und Lösungsstrategien entwickelt werden.