Sturzprävention im Setting vollstationäre Pflegeeinrichtungen

Ein Präventionsprojekt der AOK Bayern – Die Gesundheitskasse

Hintergründe/Ausgangssituation

Mehr als jeder zweite Heimbewohner erleidet nach einer Evaluation des Geriatrischen Zentrums Ulm/Alb-Donau gegenwärtig einen Sturz pro Jahr. Mehr als 20 Prozent der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner stürzen mehr als drei mal pro Jahr. Das folgenschwerste Ereignis nach einem Sturz ist ein Knochenbruch, vor allem die Hüftfraktur. Bis zu 5 Prozent der Stürze in Heimen führen zu einer Fraktur, bis zu 20 Prozent der Stürze müssen medizinisch weiter abgeklärt werden. Insgesamt werden in Deutschland im Jahr mehr als 25.000 Heimbewohner nach Hüftfrakturen behandelt. Hinzu kommt nochmals die gleiche Anzahl von Knochenbrüchen anderer Lokalisation. Insbesondere Hüftbrüche sind mit einer Steigerung der Sterblichkeit, langen Krankenhausaufenthalten, Schmerzen und zunehmender Behinderung verbunden.

Viele Stürze sind vermeidbar. Es ist von großer Bedeutung, dass seitens der Heimbewohner, des Personals und der Leitung der Einrichtung erkannt wird, dass Stürze sich häufig nicht schicksalhaft ereignen, sondern verhinderbar sind.

Unter Berücksichtigung dieser Fakten wurde von 1998 bis 2001 in der Stadt Ulm das Modellvorhaben zur Vermeidung von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen bei Heimbewohnern durchgeführt. Dieses Modell wurde ursprünglich vom Bundesministerium für Gesundheit und dem Sozialministerium des Landes Baden-Württemberg gefördert, um nach neuen Wegen der Sturzvermeidung und Mobilitätsverbesserung von Heimbewohnern zu suchen. Das Modell führte in dem genannten Zeitraum zu einer Sturzreduktion von mehr als 40 Prozent und zu einem Rückgang schwerer Verletzungen von mehr als 30 Prozent. Zum "Ulmer Modell" liegen mittlerweile erste Evaluationen und Projektberichte vor, die aufgrund ihrer durchweg positiven Ergebnisse nachgerade dazu auffordern, das Sturzpräventionsprogramm in vollstationären Pflegeeinrichtungen der AOK Bayern, auch unter dem Aspekt der Erprobung neuer Versorgungsformen, zu fördern.

Die AOK Bayern hat in einer internen Vorstudie zu Krankenhauseinweisungen von Bewohnern in vollstationären Pflegeeinrichtungen in Verbindung unter anderem mit Diagnosen zu Stürzen festgestellt, dass der Schwerpunkt bei Qualitätsverbesserungsmaßnahmen vor allem auch auf die Sturzvermeidung durch z.B. Sturzprävention zu legen ist.

Projektziele

Als primäre Ziele eines Sturzpräventionsprojektes wurden dabei die Verbesserung der Versorgung älterer Menschen, Prävention und Rehabilitation vor Pflege und die Orientierung am evaluierten "Ulmer Modell" identifiziert.
Daraus ergaben sich im Detail die Projektzielparameter

  1. Positionierung zur Verantwortung für chronisch kranke, multimorbide, pflegebedürftige Menschen,
  2. Vermeidung von Unfällen bzw. Stürzen,
  3. Qualitätsverbesserung in Pflegeheimen,
  4. Verringerung der Pflegebedürftigkeit durch Erhöhung der Funktionalität,
  5. Unterstützung bei der Einführung des Expertenstandards Sturzprophylaxe und
  6. Reduzierung der Behandlungskosten.

Somit war es operatives Ziel, ein auf die AOK Bayern zugeschnittenes Projektkonzept für einen phasenweisen landesweiten und flächendeckenden Roll-out, untergliedert in mindestens vier Projektphasen (Phase = Jahr), zu erarbeiten. Um den Roll-out auf hohem Niveau steuer- und koordinierbar zu halten, ist es Ziel, jährlich ca. 250 Pflegeeinrichtungen zur Teilnahme an dem Projekt zu gewinnen.

Die qualitative und zielgerichtete Umsetzung des Projektes hat ein interdisziplinäres Projektteam der AOK Bayern übernommen. Eine qualitätsgesicherte Projektberatung und -begleitung erfolgt durch ein medizinisch-wissenschaftliches Team unter Leitung von Herrn PD Dr. med. Clemens Becker, Chefarzt, Geriatrische Rehaklinik am RobertBosch-Krankenhaus, Stuttgart.

In diesem Zusammenhang wird eine gesundheitsökonomische Evaluation dieses bayernweit angelegten Programms zur Primärprävention von sturzbedingten Hüftfrakturen bei Pflegeheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohnern als großflächiges Translationsprojekt durchgeführt, das die Übertragbarkeit einer kontrollierten Studie auf die Alltagsbedingungen der Versorgung unter den gegenwärtigen Strukturen und Prozessen untersucht.
Parallel wurde von der AOK Bayern eine umfangreiche Datenbank entwickelt, welche durch detaillierte Auswertungsmöglichkeiten einen dezidierten Einblick in das Sturzverhalten in den beteiligten Pflegeeinrichtungen zulässt mit dem Ziel, die sich daraus ergebenden Interventionsmaßnahmen zielgerichtet mit Unterstützung der AOK vor Ort umzusetzen.

Maßnahmen/ Umsetzung

Die Kernbestandteile des Projektes werden getragen von der Durchführung eines evidenzbasierten Trainingsprogramms für Heimbewohner und einer aktiven Teilnahme der Heimleiter, Pflegemitarbeiter und Heimträger. Die aktive Teilnahme bedeutet das Führen einer strukturierten Sturzdokumentation, um das Problem in seiner Häufigkeit und Bedeutung zu erkennen. Weiter beinhaltet das Programm die Überprüfung pflegerischen und administrativen Handelns, um Stürze zu vermeiden. Um eine möglichst hohe Compliance der Betroffenen zu gewährleisten, werden auch die Hausärzte in das Projekt mit einbezogen. In der Umsetzung bedeutet das, dass, neben einem Angebot körperlichen Trainings unter therapeutischer Aufsicht, Pflegementoren geschult werden und die Einrichtungen mit Trainingsmaterial, Weiterbildungsunterlagen und begleitender Expertise unterstützt werden, um das Thema Sturzprävention erfolgreich umzusetzen. Erfolgreich umsetzen bedeutet im besonderen Maße einen pro-aktiven Ansatz, das heißt die Gleichrangigkeit von Sturzprävention und Mobilitätserhalt bzw. Verbesserung
der Lebensqualität der Bewohner.

Die wesentlichen Bestandteile der Leistungen der AOK Bayern beinhalten

  • Kursleiterkosten für das Kraft- und Balancetraining,
  • Beteiligung an den Kosten für Trainingsgeräte,
  • Evaluation der zu führenden Sturzdokumentation mit Intervention,
  • Schulung der Pflegementoren und Kursleiter,
  • Bezuschussung von Hüftprotektoren für ein Lern-Tool sowie
  • Supervision und Kursleiter-Updates.

Die Nettofinanzierungskosten durch die AOK Bayern belaufen sich dabei insgesamt auf ca. 3.000 Euro je Pflegeeinrichtung. Die Projektbegleitung durch die AOK sowie die medizinisch-wissenschaftliche Unterstützung ist hierbei nicht eingerechnet.

Bei dieser Anschubfinanzierung handelt es sich um die Kostenübernahme für reine Präventionsmittel, die jedoch keine Dauerleistung für die Einrichtungen darstellen.

Ganz im Sinne der Definition "Prävention im Setting vollstationäre Pflegeeinrichtungen" bezieht dieses Projekt alle Beteiligten in der Lebenswelt Pflegeeinrichtung mit ein. Dies bedeutet insbesondere, dass nicht nur exklusiv ca. 47.300 AOK-Versicherte in vollstationären Einrichtungen zur Teilnahme am Programm angesprochen werden.

Eigenschaften des Projektes aus medizinisch-wissenschaftlicher Sicht

Das Projekt Sturzprävention vereinigt Eigenschaften, die einen Einsatz in Pflegeheimen besonders lohnend erscheinen lassen. Wie nachfolgend genauer ausgeführt, beinhaltet es Maßnahmen der Verhaltens- und der Verhältnisprävention. Außerdem werden Partizipation, Präventionspotenziale und Gesundheitsressourcen von älteren Menschen in nachhaltiger Form gefördert:

1. Kombination von Verhaltens- und Verhältnisprävention

Verschiedene Risikofaktoren und -indikatoren für Stürze oder hüftnahe Frakturen wie Muskelschwäche, Multimedikation oder eine für sturzgefährdete Menschen unsichere Umgebung sind mittlerweile gut nachgewiesen (Lord 2001, Kron 2003, Becker 2005, Leipzig 1999). Das Interventionsprogramm zur Sturz- und Frakturprävention beinhaltet deshalb unterschiedliche Maßnahmen, die zum Teil der Verhaltensprävention (z.B. Training) und zum Teil der Verhältnisprävention (z.B. bauliche Anpassungen, Lowery 2000, Marx 1994) zuzuordnen sind. Es handelt sich um einen Settingansatz, bei dem sich Präventionsmaßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention gegenseitig in ihrer Wirkung ergänzen.

2. Förderung von Präventionspotenzialen und Gesundheitsressourcen älterer Menschen

Eine Abnahme der Muskelmasse (Sarkopenie) ist bei Pflegeheimbewohnern häufig und
u.a. bedingt durch einen Mangel an körperlicher Aktivität. Die Folge ist eine Verschlechterung der statischen und dynamischen Balance. Für beides ist belegt, dass es auch oder gerade bei hochaltrigen Menschen gut trainierbar ist. Subgruppenanalysen belegen, dass selbst bei gebrechlichen Personen mit Demenz erhebliche Präventionspotenziale bei der Sturzprävention und somit ungenutzte Gesundheitsressourcen vorhanden sind.

3. Partizipation

Qualitative Beobachtungen zeigen, dass sich durch das Programm die Anzahl der sozialen Begegnungen von Heimbewohnern vergrößern lässt. Bewegungsprogramme reduzieren darüber hinaus Depressivität und Angst (Singh 2005), was ein entscheidender Faktor im Vergleich zu monofaktoriellen Interventionen mit Medikamenten oder der alleinigen Verordnung von Hüftprotektoren darstellt. Der Zuwachs an Mobilität ermöglicht es den Bewohnern, sich unabhängiger inner-und außerhalb des Pflegeheims zu bewegen. Das bedeutet mehr Selbständigkeit bei den Aktivitäten des täglichen Lebens und eine Befähigung zur Teilhabe an sozialen Aktivitäten. Darüber hinaus machen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Erfahrung, dass auch im Alter der Körper belastbar und trainierbar ist und befähigt sie somit zu einem höheren Maß an Selbstwirksamkeit (self-efficacy) und Lebensqualität.

4. Nachhaltigkeit

Die intensive Beschäftigung des Pflegepersonals mit dem Thema Sturz- und Frakturprävention (Dokumentation, Schulungen, Fallbesprechungen, Pflegeplanung) führt zu einer Sensibilisierung in Bezug auf Risikofaktoren und Coping-Mechanismen. Sturzpräventionsmaßnahmen aus zurückliegenden Studien haben bereits Eingang in die Pflegestandards (Nationaler Pflegestandard) gefunden. Es wird davon ausgegangen, dass die geplante landesweite Dissemination des Programms dieses nachhaltig in den Arbeitsalltag integrieren wird und auch auf das Pflegeverständnis der Mitarbeiter im Heimbereich Einfluss haben wird.

Perspektiven

Die AOK Bayern hat Stürze und deren Folgen als ein wesentliches Problem von Heimbewohnern identifiziert und ist davon überzeugt, dass durch geeignete Maßnahmen Stürze und deren Folgeverletzungen vermindert bzw. verringert werden. Hierbei ist von großer Bedeutung, dass auch seitens der Bewohner, des Personals und der Leitung der Einrichtung erkannt wird, dass Stürze sich häufig nicht schicksalhaft ereignen, sondern vermeidbar sind.
Für die AOK Bayern bilden die allseits anerkannten Erfahrungen des Geriatrischen Zentrums Ulm/Alb-Donau die Grundlage für ein konkretes und zielgerichtetes Vorgehen. Neben der Frage der Finanzierbarkeit spielen auch generelle Fragen zur Umsetzungsqualität und Evaluation bzw. Intervention eine zentrale Rolle. Als besonders positiv wird hierbei die Tatsache angesehen, dass als Synergieeffekt die Umsetzung des seit Februar 2006 gültigen "Expertenstandards Sturzprophylaxe in der Pflege" unterstützt wird.

Nach umfangreichen Vorarbeiten ist es gelungen, insgesamt 256 Pflegeeinrichtungen in Bayern für das Projekt in der ersten Phase zu gewinnen. Start war der 1. Januar 2007.

Parallel wurden über 300 Pflegementoren geschult und im I. Quartal 2007 über 280 Kursleiter in der Anwendung des Kraft- und Balancetrainings ausgebildet. Ab Januar 2008 werden weitere ca. 260 Pflegeeinrichtungen mit dem Sturzpräventionsprojekt starten. Somit werden dann bereits über 510 Pflegeeinrichtungen das Angebot der AOK Bayern wahrgenommen haben. Das Programm soll bis zum Jahr 2010 etwa 1.000 Pflegeheime mit 85.000 BewohnerInnen erreichen.

Letztendlich sollen durch das Projekt Daten generiert werden, die in Deutschland und im europäischen Raum darüber Auskunft erteilen können, ob sturzbedingte Hüftfrakturen unter Alltagsbedingungen in einem Hochrisikokollektiv reduziert werden können und ob auch eine positive gesundheitsökonomische Bewertung der Präventionsmaßnahmen aus Sicht der Leistungsträger, Leistungserbringer und politischen Entscheidungsträger erfolgen kann.

Kontakt

AOK Bayern – Die Gesundheitskasse
Bereich Gesundheitlicher Verbraucherschutz
Carl-Wery-Straße 28, 81739 München
Ansprechpartner: Ralf M.K. Brum, Regina Merk-Bäuml
Tel. 089-62730-400 und 089-973-203
ralf.brum@by.aok.de
regina.merk-baeuml@by.aok.de

Stand der Projektinformation: 2007