Zur "Mutter der eigenen Eltern" werden ist nicht leicht.
1. Preis im BGPP 2012 für das Projekt der Angehörigenberatung Nürnberg e.V., überreicht in München am 14. Dezember 2012
Spezifische Bildungsangebote und eine Zukunftswerkstatt als Präventionsmaßnahme für pflegende Töchter demenzkranker Eltern – Das Konzept der Angehörigenberatung e.V. Nürnberg
Barbara Lischka
Frauen, die demenzkranke Eltern versorgen und pflegen, sind besonderen Herausforderungen und Belastungen ausgesetzt. Die Angehörigenberatung e.V. Nürnberg hat deshalb spezifische Angebote entwickelt, um diese pflegenden Töchter zu unterstützen: Es finden Bildungsangebote in Form von Seminaren, eine fortlaufende Gesprächsgruppe sowie intensive Einzelgespräche nach dem Ansatz der systemischen Beratung statt.
1. Hintergrund: Die Situation von Töchtern demenzkranker Menschen
Studien des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zufolge sind erwachsene Töchter pflegebedürftiger Menschen die größte Gruppe pflegender Angehöriger: Sie stellen 23% aller Hauptpflegepersonen, gefolgt von der Gruppe der Ehefrauen mit 20% (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2002).
Neben diesen Zahlen sprechen auch die Erfahrungen in der Angehörigenberatung e.V. Nürnberg dafür, die Situation von Töchtern demenzkranker Menschen ins Blickfeld zu nehmen und spezifische Angebote für diese Zielgruppe umzusetzen: Die größte Gruppe der in der Beratungsstelle beratenen Personen sind mit 39% Töchter. Damit sind sie deutlich überproportional vertreten. In der Beratung von pflegenden Angehörigen ebenso wie in der Durchführung von Seminaren für Angehörige demenzkranker Menschen konnten wir andererseits feststellen, dass sie andere Bedürfnisse und Belastungen mitbringen als etwa die Gruppe der pflegenden Ehefrauen. In Seminaren mit gemischter Zielgruppe nehmen Töchter sich häufig zurück angesichts der Belastung der oft selbst schon betagten und rund um die Uhr geforderten Ehepartner, ihre spezifischen Fragen bleiben ungehört.
Die Situation der Töchter wird zum einen von den Fragen und Problemen geprägt, die sich aufgrund der Demenzerkrankung stellen, etwa die Belastung durch Verhaltensauffälligkeiten der erkrankten Person oder die Erfahrung eines "Abschieds auf Raten". Zum anderen zeigen sich charakteristische Fragestellungen, die sich deutlich von denen anderer pflegender Angehöriger abheben. Sie leiden stark unter fehlender sozialer Anerkennung, müssen neben der Betreuung der Eltern den Ansprüchen aus Beruf und eigener Familie gerecht werden, eine oftmals massive Rollenanpassung vornehmen und leiden besonders unter Schuldgefühlen. Zudem besteht für viele Töchter die Situation einer Pflege "aus der zweiten Reihe", wenn sie nicht nur den Bedürfnissen des demenzkranken Elternteils gerecht werden müssen, sondern auch denen des pflegenden Elternteils.
Abbildung 1: Situation der Töchter demenzkranker Menschen
Bisher vorhandene Bildungsangebote scheinen den Bedürfnissen von Töchtern demenzkranker Menschen noch nicht vollständig gerecht zu werden. Zwar gibt es diverse psychoedukative Bildungsmaßnahmen für Angehörige demenzkranker Menschen, deren entlastende Wirkung in verschiedenen Studien mehr oder weniger deutlich belegt wurde. Trotzdem besteht Bedarf nach spezifischen Angeboten:
- Inhaltlich greifen die bisherigen Angebote v.a. das Themenfeld "Demenz" auf. Die sich aus der Tochterrolle ergebenden Problematiken bleiben noch weitgehend unbearbeitet.
- Es besteht zudem das Risiko, dass in Bildungsmaßnahmen mit gemischter Zielgruppe die Anliegen der Töchter nicht ausreichend berücksichtigt werden können.
- Auch zahlenmäßig sind Angebote für Töchter bundesweit noch unterrepräsentiert – es gibt deutlich mehr Bildungs- und Entlastungsangebote für die Zielgruppe der pflegenden Ehepartner, obwohl diese weniger stark in der Beratung vertreten sind.
Dies ist Anlass für uns, passgenaue Angebote für die Töchtergeneration anzubieten.
2. Unser Ziel: Handlungskompetenz und Gesundheit von Töchtern stärken
Töchter demenzkranker Menschen sollen durch zielgruppenspezifische Bildungsangebote in ihrer Handlungskompetenz als Pflegende gestärkt werden. Durch die Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild Demenz, mit ihrer Rolle als pflegende Tochter und im Austausch mit anderen betroffenen Frauen wachsen sie in ihrer Fähigkeit, die Pflegesituation selbstbestimmt zu meistern; Gefühle von Hilflosigkeit und psychische Belastungen nehmen ab, das Risiko psychosomatischer Beschwerden sinkt.
Damit werden durch die Bildungsangebote der Angehörigenberatung e.V. verschiedene klassische Handlungsfelder der Gesundheitsförderung abgedeckt:
- Die Töchter werden darin unterstützt, die eigene Handlungskompetenz in Bezug auf die Pflegesituation und ihre Rolle weiterzuentwickeln und damit gesundheitsförderliche Verhaltensweisen zu entwickeln (z.B. emotionale Verarbeitung der Demenz, Wahrnehmen und Definieren eigener Grenzen, Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Familiengefüge etc.)
- Sie werden in der Wahrnehmung von gesundheitsbezogenen Gemeinschaftsaktionen unterstützt, da alle unsere Angebote (außer der systemischen Einzelberatung) dezidiert auf Austausch und das gemeinsame Erarbeiten von Lösungsmöglichkeiten setzen.
3. Rahmenbedingungen: Die Angehörigenberatung e.V. als Träger
Die Angehörigenberatung e.V Nürnberg ist ein Verein mit derzeit 282 Mitgliedern (überwiegend Angehörige demenzkranker Menschen und Freiwillige). Seit mehr als 25 Jahren engagieren wir uns für pflegende Angehörige sowie für gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen.
Die Aufgaben des Vereins werden von drei Fachabteilungen umgesetzt:
- Der Schwerpunkt der Arbeit in der Fachstelle für pflegende Angehörige und Demenzberatung (Beratungsstelle) liegt auf der Beratung von Angehörigen und hier primär der Beratung von pflegenden Angehörigen demenzkranker Menschen, der Durchführung von Gruppen- und Seminarangeboten für Angehörige und für demenzkranke Menschen sowie in der Arbeit mit Freiwilligen.
- Die Mitarbeiterinnen der Gerontopsychiatrischen Fachkoordination (GeFa) Mittelfranken bieten in erster Linie Informationsvermittlung über Gerontopsychiatrie und gerontopsychiatrische Angebote im Allgemeinen sowie die spezielle Versorgungsstruktur in Mittelfranken an. Die Aufgaben der GeFa umfassen Fachberatungen, Vorträge in Gremien und Ausschüssen auf örtlicher und überörtlicher Ebene, die Organisation von Fortbildungsveranstaltungen und Kampagnen. Es wird die Vernetzung der einzelnen Anbieter vor Ort unterstützt und gefördert.
- Unsere Fortbildungsabteilung führt Fortbildungen zum Themengebiet "Gerontopsychiatrie" für ambulante Pflegedienste ("Qualifizierungskonzept Gerontopsychiatrie", gefördert vom Bezirk Mittelfranken) sowie stationäre Einrichtungen durch.
Die Bildungs- und Präventionsangebote für Töchter entstanden im Rahmen der Fachstelle für pflegende Angehörige. Bereits seit dem Jahr 2000 bietet die Angehörigenberatung punktuell spezifische Seminare für Töchter an. Dieses Engagement wurde in den letzten Jahren ausgebaut, 2011 konnte eine Mitarbeiterin im Rahmen einer Masterarbeit (Master of Education, M.Edu.) intensiv an der Weiterentwicklung der Präventionsangebote für die Töchtergeneration arbeiten und in diesem Zusammenhang u.a. eine Zukunftswerkstatt mit betroffenen Frauen durchführen.
Die Arbeit der Fachstelle wird durch Zuschüsse der Stadt Nürnberg, aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen sowie durch Eigenmittel des Vereins (Spenden, Mitgliedsbeiträge) finanziert. Für die Seminare erheben wir eine Teilnahmegebühr von 25 Euro.
4. Umsetzung: Angebote als Präventionsmaßnahmen für Töchter demenzkranker Menschen
Momentan bietet die Angehörigenberatung e.V. Nürnberg folgende Bausteine als Präventionsmaßnahmen für Töchter demenzkranker Menschen an (Abb. 2):
"Töchter von Menschen mit Demenz: welche Angebote brauchen Sie?" – Zukunftswerkstatt: Dies war eine einmalige Aktion im Jahr 2011. In einer dreistündigen Abendveranstaltung wurde mit neun Töchtern demenzkranker Menschen erarbeitet, was die Lebenssituation dieser Zielgruppe prägt, welche Bedürfnisse sie hat und welche Angebote sie als sinnvoll, passend und hilfreich wahrnimmt.
Die Zukunftswerkstatt fand in drei Phasen statt. In der sog. "Beschwerde- und Kritikphase" wurden folgende Fragestellungen aufgegriffen: "Was belastet Sie als Tochter?", "Was sind die Probleme von Töchtern?" Aus diesen Themen haben die Töchter folgende Hauptprobleme identifiziert:
- Einschränkung persönlicher Freiheit.
- Familie leidet.
- Wann muss ich einschreiten? Wer hilft?
- Schmerz über Persönlichkeitsveränderung.
In der "Phantasie- und Utopiephase" stand die Aufgabe im Mittelpunkt, wie das Leben der Teilnehmerinnen aussehen würde, wenn die vorher identifizierten wichtigsten Probleme gelöst wären. Dies wurde in Kleingruppen durch gemeinsames Malen bearbeitet. Es entstanden zwei Bilder mit bemerkenswert unterschiedlichen Ansätzen:
- Die Gruppe "Traumhaus" hat eine Vision entwickelt, in der alle Bedürfnisse – also die der demenzkranken Eltern und die der Töchter – unter einem Dach vereint sind. Hier lebt große Nähe, es gibt Raum für Begegnung, das "Töchter-Vitalcenter" findet sich direkt neben der Creativ-Werkstatt für die demenzkranken Eltern.
- Die Gruppe "Wunsch-Punsch" hingegen sucht die Freiheit. Sie hat ein kleines Haus geschaffen, in dem die demenzkranken Eltern gut untergebracht sind, aus dem sie den Töchtern nachwinken. Diese machen sich alleine auf den Weg mit Picknick-Korb, Fahrrad, Ballon oder Segelboot.
In der "Verwirklichungs-und Praxisphase" wurde versucht, die Inhalte der "Wunschbilder" konkret werden zu lassen. Wichtigstes Ergebnis war hier das "Seminar für mich". Die Teilnehmerinnen haben Inhalte für ein Seminar erarbeitet, in dem es sich nicht primär um die Demenz und die Bedürfnisse demenzkranker Eltern drehen soll, sondern um die Situation und die Bedürfnisse der Töchter. Diese Ergebnisse flossen in die Entwicklung unseres Aufbauseminars "Demenz: die Eltern unterstützen – für mich sorgen" ein.
"Wenn die Eltern demenzkrank werden" – psychoedukatives Basisseminar:
Dieses Angebot hat Töchter und Söhne demenzkranker Menschen als Zielgruppe. Es wird seit 2008 zweimal jährlich mit jeweils sechs Seminarterminen à zwei Stunden am Abend durchgeführt. Inhaltlich besteht es aus einer Mischung aus Vortrag und Austausch und greift die in Abbildung 3 dargestellten Themen und Inhalte auf, ergänzt durch spezifische Themen wie Rollenanpassung gegenüber den Eltern oder zerrissen sein zwischen verschiedenen Anforderungen. Dieses Seminar ist immer ausgebucht, teilweise wird eine Warteliste geführt; die Rückmeldungen der Teilnehmenden sind durchwegs positiv und decken sich mit der Erfahrung der Mitarbeitenden, dass Lern-und Verarbeitungsprozesse angestoßen werden. Viele Teilnehmende fragen nach weiterführenden Angeboten im Anschluss an das Seminar.
"Demenz: die Eltern unterstützen – für mich sorgen" – Aufbauseminar: Im Jahr 2011 wurde als Ergänzung der bisherigen Angebote ein sechsteiliges Aufbauseminar entwickelt, das im Herbst 2012 erstmals durchgeführt werden soll. In das Konzept dieses Seminars flossen insbesondere die Ergebnisse der Zukunftswerkstatt ein.
"Wenn Töchter pflegen ..." – fortlaufende Gesprächsgruppe: Bereits seit 2002 wird einmal monatlich an einem Abendtermin eine moderierte Gesprächsgruppe für Töchter demenzkranker Eltern ohne inhaltliche Vorgaben angeboten. Der Austausch untereinander, das gemeinsame Suchen nach individuellen Lösungen stehen hier im Vordergrund. Diese Gruppe findet mit einem Kern von etwa fünfzehn Frauen statt, die Gruppengröße der einzelnen Termine schwankt jedoch zwischen fünf und zwölf Teilnehmerinnen. Die Teilnehmerinnen geben eine gute Rückmeldung, sie erleben die Gesprächsgruppe als emotional entlastend im Alltag mit einem demenzkranken Elternteil. Ein Großteil der Teilnehmerinnen bleibt dieser Gruppe über den ganzen Krankheitsverlauf treu:
- von der Diagnosestellung Demenz über die ersten Erkrankungsphasen mit herausfordernden Verhaltensweisen wie ständiges Verräumen und Suchen von Gegenständen, Aggression oder Weglauftendenz,
- über die Phase einer mittelschweren und schweren Demenz, wenn der Hilfebedarf im Bereich der Pflege und ganz grundlegenden Versorgung massiv zunimmt,
- bis zum letzten Erkrankungsstadium, das häufig mit Bettlägerigkeit und Abhängigkeit in allen Lebensbereichen und schließlich dem Tod des betroffenen Elternteils einhergeht.
Systemische Einzelberatung für Töchter: Seit Anfang 2012 bietet eine Kollegin, die sich gerade in der Weiterbildung zur systemischen Beraterin (zertifiziert nach DGSF) befindet, bei Themen wie ausgeprägten Schuldgefühlen oder schwer bewältigtem Abschied vom demenzkranken Elternteil systemische Beratung an. Hier kann in einem 90-minütigen Einzelgespräch intensiv daran gearbeitet werden, eigene Bedürfnisse und Ressourcen zu entdecken und die Handlungskompetenz zu erweitern.
5. Qualitätssicherung und Evaluation
Zur Evaluation der Zufriedenheit der Teilnehmerinnen werden zum Ende der Seminare
regelmäßig Befragungsbögen eingesetzt. Hierzu einige Zitate, die aufzeigen, inwiefern
Töchter von den Seminaren profitieren:
"An dem Angehörigenseminar gefällt mir besonders gut, dass ..."
"... man jederzeit Fragen stellen kann und es ein kleiner Kreis ist"
"... die Teilnehmer gestärkt werden"
"... ich erkannt habe, wie viel ich schon verkehrt gemacht habe"
"... dass ich viel von den (anderen) Angehörigen erfahren habe".
Die Durchführung der Zukunftswerkstatt im Mai 2011 diente zwei Zielen: zum einen sollten Töchter darin unterstützt werden, die eigene Situation und die eigenen Bedürfnisse zu reflektieren und für sich selbst Handlungsschritte zu formulieren. Vor allem aber diente sie der Evaluation und Weiterentwicklung unserer Angebote für Töchter.
Eine intensive Bestandsaufnahme zur Lebenswelt von Töchtern demenzkranker Menschen und eine detaillierte Weiterentwicklung unserer Angebote wurde 2011 im Rahmen der Masterarbeit "Zur Mutter der eigenen Eltern werden ist nicht leicht. Theoretische und konzeptionelle Überlegungen zu einem Bildungsangebot als Unterstützung für Töchter demenzkranker Eltern" vorgenommen.
Kontakt
Angehörigenberatung e.V. Nürnberg
Ansprechpartnerin: Barbara Lischka
Adam-Klein-Str. 6, 90429 Nürnberg
Tel. 0911-266126
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