Interkulturelles Betriebliches Gesundheitsmanagement (IBGM)

Eine Kooperation der BKK BMW und Initiative Gesundheit und Arbeit (iga)
Pilotprojekt zur Einführung eines Konzepts zur Gesundheitsförderung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Migrationshintergrund in der Automobilbranche

1. Hintergrund

In Deutschland repräsentieren Migrantinnen und Migranten mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung, die das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen stellen. Es ist anzunehmen, dass ein Migrationshintergrund einen Einfluss auf die Gesundheit der betroffenen Personen hat. Ihr Risiko zu erkranken erhöht sich, sie haben einen schwereren und damit ungleichen Zugang zum Gesundheitsversorgungssystem und sie ziehen einen geringeren Nutzen daraus (RKI, 2008). Dies lässt sich hauptsächlich zurückführen auf Kommunikationsprobleme, differierende subjektive Krankheitskonzepte und im Zusammenhang mit der Migration gemachte Erfahrungen.

Zusammen stellen diese Faktoren eine oft schwer überwindbare Barriere dar. Es muss daher eine prioritäre Aufgabe des Gesundheitssystems sein, den Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für Migranten zu erleichtern. Die aktive Mitwirkung der Migranten selbst sowie eine Förderung ihrer spezifischen Ressourcen sind hierbei wichtig.

Die Situation der kulturellen Vielfalt zeigt sich auch in der BMW AG. In der Abteilung TM-2, dem Presswerk und Karosseriebau, in welcher das Konzept des Interkulturellen Betrieblichen Gesundheitsmanagements pilothaft eingeführt wurde, haben nur knapp 61% der hier Beschäftigten die deutsche Staatsangehörigkeit2. Türkischer Herkunft sind ca. ein Viertel der Belegschaft, die verbleibenden ca. 15% verteilen sich auf unterschiedliche Nationalitäten, wie kroatisch, serbisch, griechisch, etc.

Dieser Umstand erfordert eine erhöhte Sensibilität der Führungskräfte für ihre Mitarbeiter mit Migrationshintergrund. Aufgrund der Kenntnisse über die ungleiche Teilhabe an der Gesundheitsversorgung muss der Zugang zu Versorgungs- und Präventionsangeboten im Betrieb erleichtert werden und sprachliche und kulturelle Barrieren berücksichtigt werden. Präventive Strategien müssen darauf abzielen, Kenntnisse über Lebensweisen und Lebenslagen, Gesundheitskonzepte und alltägliche Handlungsmöglichkeiten mit einzubeziehen. Genau diese Ansätze finden in dem Konzept des Interkulturellen Betrieblichen Gesundheitsmanagements (IBGM) Berücksichtigung. IBGM wurde im Auftrag der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) maßgeblich durch den Diplom-Soziologen Ramazan Salman und Professorin Dr. Martina Harms entwickelt. Es fokussiert auf zwei Faktoren, die durch die Betriebe gut zu beeinflussen sind, nämlich das Führungsverhalten der direkten Vorgesetzten und die Einbindung von Beschäftigten in das Betriebliche Gesundheitsmanagement.

2. Projektziel

Die strukturelle Vernetzung der Gesundheitslotsen mit weiteren Akteuren des Gesundheitsmanagements in der BMW AG wird als mittelfristiges Ziel angestrebt. Ihre Lotsenfunktion besteht darin, auf gesundheitliche Defizite aufmerksam zu machen und diese in die entsprechenden Gremien zu tragen. Im Sinne des Empowerment-Ansatzes motivieren sie ihre Kollegen, an betrieblichen Vorsorge-und Präventionsangeboten teilzunehmen.

Das langfristige Ziel von IBGM ist es, die Gesundheit aller Mitarbeiter nachhaltig zu fördern und ihnen den Zugang zu Versorgungs- und Präventionsangeboten im Betrieb zu erleichtern. Dabei wird ausdrücklich auch auf die Bedürfnisse von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund eingegangen, sprachliche und kulturelle Barrieren werden berücksichtigt. Dies trägt dazu bei, diese Mitarbeiter stärker in die gesundheitlichen Strukturen der BMW AG einzubinden und ihnen zur gleichberechtigten Teilhabe an Gesundheitsleistungen und -informationen zu verhelfen.

3. Umsetzung des Konzeptes

Die Umsetzung von IBGM sieht mehrere Bausteine vor. Diese können die flexibel an spezifische betriebliche Belange angepasst werden. Zunächst erhielten die beteiligten Akteure des Gesundheitsmanagements im Rahmen eines Steuerkreises zum Thema Sicherheit, Anwesenheit und Gesundheit (SAG) eine interkulturelle Beratung durch die externen Kooperationspartner. Nachdem sich der Steuerkreis zur Umsetzung von IBG entschieden hatte und die betriebsspezifische Anpassung von IBG erfolgt war, wurden die folgenden Maßnahmen umgesetzt.

3.1. Auftaktveranstaltung

Die Auftaktveranstaltung war eine Informationsveranstaltung, an der neben den Teilnehmern des SAGs und den ausgewählten Gesundheitslotsen alle Führungskräfte einschließlich Meister der Produktionsabteilung TM-2 teilnahmen. Des Weiteren besuchten interessierte Vertreter des Betriebsrates, des Gesundheitsdienstes, der Personalabteilung und der Arbeitssicherheit diese Veranstaltung.

In der Auftaktveranstaltung stellten sich das Umsetzungsteam, externe Projektpartner und Referenten und die Teilnehmenden selbst vor. Neben der Darstellung des Projekts wurden in Kleingruppen offene Fragen sowie positive und negative Rückmeldungen erarbeitet.

3.2. Führungskräfteseminar

Das Führungskräfteseminar diente der Sensibilisierung von Führungskräften für kulturelle Unterschiede und den Zusammenhang zwischen Führung und Gesundheit. In dem Seminar wurden Handlungsfelder erarbeitet und Inhalte vermittelt, die zu einem größeren Verständnis der Zusammenhänge Migration, Kultur und Gesundheit sowie von interkultureller Kompetenz und Gesundheitsmanagement führte. Die Führungskräfte erarbeiteten, welche Aufgaben, Rolle und Einsatzmöglichkeiten der Gesundheitslotsen sie in ihren entsprechenden Abteilungen sehen.

3.3. Schulung der Gesundheitslotsen

Die Auswahl der Gesundheitslotsen erfolgte nach festen Kriterien, die vorher gemeinsam formuliert wurden. So sollten sie z.B. neben guten Deutschkenntnissen auch Vertrauen und Anerkennung in ihrem Produktionsbereich genießen. Ein BMW-Spezifikum war die Tatsache, dass nicht ausschließlich Mitarbeiter mit Migrationshintergrund zu Gesundheitslotsen ausgebildet wurden. Die Mitarbeiter wurden angesprochen und konnten freiwillig entscheiden, ob sie Gesundheitslotsen werden wollten oder nicht.

Die Schulung fand in deutscher Sprache statt. Insgesamt nahmen 20 Mitarbeiter an der Schulung teil, für welche ein Zeitrahmen von 40 Stunden veranschlagt wurde.

Die Schulung gliederte sich in einen theoretischen Teil, in dem grundsätzliche Themen wie die eigene Gesundheit, Migration und Aufgaben im betrieblichen Gesundheitsmanagement behandelt wurden. Weiterhin lernten die Teilnehmer alle relevanten Ansprechpartner im Betrieb kennen. Der methodische Teil befasste sich mit praktischen Anwendungsübungen z.B. zur Kommunikation, dem Aufbau von und der Arbeit in Netzwerken.

Ein Schulungstag wurde auf die Frage verwandt, wie die Rolle des Gesundheitslotsen definiert sein sollte und welche Aufgaben die Gesundheitslotsen künftig übernehmen wollen.

Rolle und Aufgaben der Interkulturellen betrieblichen Gesundheitslotsen

Die Gesundheitslotsen verstehen sich als gleichberechtigte Kollegen, die Überblicks-wissen zum betrieblichen Arbeitsschutz und Gesundheitsmanagement erworben haben. Die Schulung befähigt sie, Kollegen durch das betriebsinterne Gesundheitsangebot zu lotsen. Sie kennen die Akteure des betrieblichen Gesundheitsmanagements und sind für diese ebenso Ansprechpartner wie für ihre Kollegen. Die Gesundheitslotsen haben eine Brückenfunktion:

  • Sie geben gesundheitsrelevante Informationen weiter, die durch das Gesundheitsmanagement bereitgestellt werden.
  • Sie unterstützen die Kommunikation von Veranstaltungen.
  • Sie motivieren ihre Kollegen zur Teilnahme an Veranstaltungen.
  • Sie informieren und beraten ihre Kollegen zu Strukturen und Ansprechpartnern imBetrieb.
  • Sie lotsen ihre Kollegen zu den entsprechenden Anbietern / Ansprechpartnern.
  • Sie machen auf gesundheitliche Defizite aufmerksam und tragen diese Informationen an die richtigen Stellen.
  • Sie sind durch einen gewählten Vertreter im Steuerkreis Sicherheit, Anwesenheit und Gesundheit vertreten.
  • Sie sind Ansprechpartner für Kolleginnen und Kollegen bei deren gesundheitlichen Problemen und nehmen eine Vermittler- und Verteilerfunktion wahr.

3.4. Abschlussveranstaltung

Die Abschlussveranstaltung diente der Vernetzung der unterschiedlichen Zielgruppen von IBGM und dem Austausch der in der Gesundheitslotsenschulung und dem Führungskräftetraining erarbeiteten Erwartungen an das weitere Vorgehen und die Rolle der Gesundheitslotsen. Die Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen beider Gruppen waren im Wesentlichen deckungsgleich. Gemeinsam wurde diskutiert, wie die Arbeit der Gesundheitslotsen in der nächsten Zeit umgesetzt werden kann.

Zum Abschluss dieser Veranstaltung wurde den Gesundheitslotsen ein iga-Zertifikat ausgehändigt, das ihnen die erfolgreiche Teilnahme an der Schulung zu Gesundheitslotsen bestätigt.

Nachhaltigkeit

In der Abschlussveranstaltung wurden vor allem drei Aspekte betont, die für die Sicherung der Nachhaltigkeit stehen. So sollen die Gesundheitslotsen

  1. die Gelegenheit bekommen, sich regelmäßig zu treffen. Es wurde ein vierwöchiger Rhythmus vereinbart. Die Gesundheitslotsen werden hierfür von ihrer Arbeit freigestellt. Inhalte der Treffen sind, neben der Intensivierung von und Gesundheitsthemen, die Organisation der Lotsenarbeit und der Austausch der Lotsen untereinander.
  2. sich strukturell mit anderen Akteuren des betrieblichen Gesundheitsmanagements vernetzen (z.B. BKK BMW, Gesundheitsdienst), indem sie je nach Bedarf an den jeweiligen Arbeitskreisen teilnehmen. Gewählte Vertreter der Gesundheitslotsen sollen am SAG teilnehmen.
  3. aktiv in Maßnahmen und Aktionen des betrieblichen Gesundheitsmanagements einbezogen werden. Dies, indem sie als Multiplikatoren fungieren, die Informationen über diese Maßnahmen an ihre Kollegen weitergeben und sie dazu motivieren, daran teilzunehmen.

Aktueller Stand

Knapp sechs Monate nach der Abschlussveranstaltung konnten alle geplanten Maßnahmen zur Sicherung der Nachhaltigkeit umgesetzt werden. Die Gesundheitslotsen haben bereits mehrfach getagt. Es wurden zwei Vertreter als Sprecher gewählt, jeweils einer aus der Abteilung Karosseriebau und der Abteilung Presswerk. Ebenso wurde ein Schriftführer ernannt. Dieser übernimmt die Protokollierung der Treffen und pflegt den Maßnahmenkatalog.

Auch die Vernetzung der Lotsen ist erfolgt. Beide Lotsenvertreter nehmen regelmäßig an Sitzungen des SAG teil. Die Führungskräfte und Meister werden regelmäßig über Arbeit und Aktivitäten der Lotsen informiert, indem ihnen der Maßnahmenkatalog der Lotsen zugeht. Weiterhin nimmt pro Treffen eine Führungskraft an den Lotsentreffen teil.
In den sog. Gruppenrunden (abteilungsinterne Gruppengespräche) übernimmt ein Großteil der Lotsen die Aufgabe, regelmäßig über gesundheitsrelevante Informationen und Veränderungen (z.B. Vorsorge und Wiedereingliederung) zu berichten.

Bereits zwei Gesundheitsaktionen der BKK BMW (Thema Darmkrebs und Thema Mundgesundheit) wurden durch die Gesundheitslotsen unterstützt. Die Unterstützung durch die Gesundheitslotsen sah vor, Informationsflyer an ihre Kollegen weiterzugeben und sie zur Teilnahme zu motivieren. Im Fall der Darmkrebsaktion halfen sie Kollegen mit Verständnisschwierigkeiten, die Testsets im Internet zu bestellen oder erläuterten ihre Anwendung. Sie sorgten dafür, dass das Thema Darmkrebs diskutiert wurde, stellten es in Gruppenrunden vor und gingen nicht zuletzt mit gutem Beispiel voran.

Insgesamt stößt dieses Konzept in der BMW AG auf großen Zuspruch. Die Gesundheitslotsen werden in ihren Arbeitsbereichen akzeptiert und von ihren Kollegen auch informell zu Gesundheitsthemen angesprochen. Die Führungskräfte unterstützen das Projekt, indem sie die Gesundheitslotsen, wenn möglich, für ihre Aufgabe freistellen.

3.5. Broschüre "Gesund arbeiten. Ein Wegweiser für Gesundheit im Betrieb"

Ein weiterer Baustein in dem Gesamtkonzept ist die Broschüre "Gesund arbeiten. Ein Wegweiser für Gesundheit im Betrieb". Dieser Gesundheitswegweiser wendet sich an Mitarbeiter mit Migrationshintergrund. Der Wegweiser liegt in deutscher, türkischer und englischer Sprache vor und kann aus dem Internet bezogen werden (www.iga-info. de).

4. Qualitätssicherung, Dokumentation, Evaluation

Die Vielfältigkeit der Maßnahmen, die bei TM-2 im Rahmen der Arbeit des SAG durchgeführt wurden (Führungskräftetrainings, Rückkehrgespräche, Wiedereingliederungsmanagement) erschwert eine objektive Evaluation. In Planung ist jedoch eine Erhebung der Auswirkungen des Projekts wie beispielsweise zur Zufriedenheit der Projektentwicklung und zur Wahrnehmung des Projekts bei Gesundheitslotsen, Führungskräften und Mitarbeitern nach Ablauf eines Jahres nach Aufnahme der Lotsentätigkeiten.

Für den Erfolg des Projektes sprechen bereits jetzt die positiven Rückmeldungen der Gesundheitslotsen, die sich in ihrer Arbeit von Kollegen und Vorgesetzten akzeptiert resp. gefördert sehen. Sie sehen sich gut in der Lage, die Rolle, welche sie für sich definiert hatten, auszuüben. Die Kollegen nehmen das Angebot wahr, die Gesundheitslotsen als Spezialisten in Sachen Betrieblicher Gesundheitsförderung zu konsultieren.

Die Überlegung, IBGM in anderen Produktionsabteilungen umzusetzen, ist insgesamt Ausdruck für den Erfolg und den Zuspruch, den das Projekt im Unternehmen erfährt. Weiterhin kann und soll das IBGM-Projekt in anderen Betrieben umgesetzt werden. Die Initiative Gesundheit und Arbeit wird daher IBGM aktiv bewerben und strebt an, in 2009 die Umsetzung in bis zu zehn Unternehmen zu begleiten. Die iga vermittelt dabei Trainer und Referenten, stellt die Curricula und Schulungsmaterialien sowie die Broschüre "Gesund arbeiten" zur Verfügung. Die Qualitätssicherung wird somit durch die iga gewährleistet.

"Traditionell gibt es bei uns eine hohe Identifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Unternehmen. Unabhängig von dem jeweiligen kulturellen Hintergrund ist es unsere gemeinsame BMW-"Kultur", die das Miteinander am Arbeitsplatz positiv bestimmt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Migrationshintergrund müssen aber besondere sprachliche und kulturelle Barrieren überwinden. Mit dem IBGM gelingt es, vor dem Hintergrund verschiedener Herkunftskulturen, die Mitarbeiter noch stärker in die BWM AG einzubinden. Hierfür wurden die Führungskräfte geschult, um ihre Kompetenzen im Umgang mit der kulturellen Vielfalt zu erweitern. Die neu ausgebildeten Gesundheitslotsen geben ihre Kenntnisse an ihre Landsleute und Kollegen weiter, wenn nötig auch in der jeweiligen Muttersprache. Aufgrund der guten Erfahrung wollen wir das IBGM auch in anderen Unternehmensteilen einführen." (Joachim Grüger, BMW, Leiter Presswerk, Karosseriebau, Werk München)

Kontakt

BKK BMW
Ansprechpartnerin: Dr. Nicole Granrath, MPH Gesundheitsmanagement
Dostlerstraße 3, 80809 München
Tel.: 089-382-11176, Fax 089-382-11181
Nicole.Granrath@bmw.de
www.bkkbmw.de

In Kooperation mit:
BKK Bundesverband
Initiative Gesundheit und Arbeit (iga)
Ansprechpartner: Dr. Wolfgang Bödeker
Tel.: 0201-1791370
boedekerw@bkk-bv.de

Stand der Projektinformation: Mai 2009