Startseite / Sucht­prävention / Forum Suchtprävention / 22. Bayerisches Forum Suchtprävention – eine Rückschau

22. Bayerisches Forum Suchtprävention – eine Rückschau

Identitätsentwicklung und ihre Bedeutung für die Suchtprävention

Was macht uns aus? Wie nehmen wir uns wahr? Die Art und Weise, wie wir uns selbst verstehen wird als Identität bezeichnet. Neben der Biografie und dem sozialen Umfeld wirken Merkmale wie Geschlecht, Alter, sozialer Status, Gruppenzugehörigkeiten, Beruf, aber auch persönliche Eigenschaften und Kompetenzen auf den lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung. Eine besondere Bedeutung wird dem Jugendalter zugeschrieben – dem Herauslösen von kindlichen Abhängigkeiten hin zum Erwachsenwerden.

Unter dem Motto „Identitätsentwicklung: Einblicke – Ausblicke – Vielfalt“ widmete sich das 22. Bayerische Forum Suchtprävention ausgewählten Aspekten der Identitätsentwicklung, deren Bedeutung für die Suchtprävention und weiteren aktuellen und praxisrelevanten Entwicklungen aus dem Arbeitsfeld. Erstmalig fand das Forum vom 28. – 29. Oktober 2020 im Online-Format statt. Rund 70 Teilnehmer*innen verfolgten die Vorträge und Diskussionen intensiv.

Nie erwachsen? – Ursachen für die veränderte Identitätsentwicklung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Mit ihrem Eröffnungsvortrag beleuchtete Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke, Professorin für Entwicklungspsychologie, die kritische Lebensphase der Adoleszenz und stellte aus entwicklungspsychologischer Perspektive Herausforderungen der Identitätsentwicklung dar. Zu viel elterliche Unterstützung für eine zu lange Zeit ist wesentlich an der Verzögerung des Erwachsenwerdens beteiligt. Eine Balance zwischen Unterstützung und der Förderung von Eigeninitiative sollte erreicht werden. Für die Entwicklung sind dosierte Frustrationen notwendig, denn nur wer lernt, Probleme zu lösen, kann kompetent handeln. Die Botschaft von Prof. Seiffge-Krenke lautet deshalb, insbesondere für die Elternarbeit: Ein Zurückfahren der überstarken Unterstützung ist für die Identitätsentwicklung im Jugendalter essentiell.

Typisch männlich, typisch weiblich – wie uns traditionelle Vorstellungen prägen

Mädchen sind fleißig, Jungen sind mutig, Frauen arbeiten in sozialen Berufen und sind gefühlsbetont, Männer kennen keine Schwäche, regeln alles und arbeiten in Ingenieursberufen – die Zuschreibung von Geschlechtsmerkmalen lässt sich beliebig fortführen. Frauenquote, Lohngleichheit, eine zusätzliche Geschlechtsbezeichnung „divers“ – zahlreiche gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse stellen die Gleichstellung in den Fokus und normierte Rollenzuschreibungen in Frage.

Prof. Dr. Barbara Thiessen, Professorin für gendersensible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut, schilderte, wie in der Öffentlichkeit ein neues Bild von „Top Girls“, die alles erreichen können, gezeichnet wird. Es ergeben sich neue Möglichkeiten und Gewinne für Frauen und Mädchen, das steht außer Frage. Allerdings mit der Einschränkung, dass sie nicht für alle gleichermaßen gelten – sie sind abhängig vom sozioökonomischen Status. Der Erfolg junger Frauen verschleiert weiterbestehende Ungleichverhältnisse. Geschlechterhierarchien zeigen sich nicht nur beruflich im Gender Pay Gap sondern werden auch in Partnerschaften kaum in Frage gestellt. Neue Chancen führen zu einem zusätzlichen Optimierungsdruck, ein Scheitern wird zum persönlichen Versagen.

Zugleich schloss Björn Süfke, Psychologe und Männertherapeut, an, dass die traditionelle Männlichkeit in einer Krise stecke. Die Zuschreibung traditioneller Geschlechtsmerkmale führe laut Süfke zu „MännerKatastrophen“ (Einsamkeit, Gefühlsverbot, sexuelles Unglück, Gewalt, Süchte, Suizid etc.). Er postuliert keinesfalls ein neues Männlichkeitsverständnis, sondern einen reflektierten Umgang, eine männliche Versagenskultur, die männliche Emanzipation und die Öffnung weiblich assoziierter Bereiche.

Aus unterschiedlichen Perspektiven zeigten beide Vorträge, dass die normierten Zuschreibungen von Geschlechtsmerkmalen Druck aufbauen und zu Krisen führen können. Die innere Not kann zu Suchtverhalten führen, dass sich bei Männern eher externalisiert und bei Frauen eher nach innen gerichtet zeigt.

Mehr „sowohl als auch“ statt „entweder-oder“

Robin Wulfert und Quentin Rothammer, Berater*innen der Trans*Inter*Beratungsstelle München, schilderten in ihrem Beitrag eindringlich, dass die Geschlechtsidentität keineswegs nur binär – also männlich oder weiblich – ist. Sobald Kategorien genutzt werden, um eine Zugehörigkeit zu beschreiben, gibt es immer auch Menschen, die sich diesen nicht zuordnen können. Diese Menschen mit ihrer persönlichen Identität nicht wahrzunehmen birgt ein hohes Potenzial für Diskriminierungen, Stigmata und Vorurteile. Eine Person absichtlich oder unabsichtlich einem falschen Geschlecht zuzuordnen – Misgendern – ist ein Diskriminierungsbeispiel. Minoritäten können vielfältigen Stressoren ausgesetzt sein, die zu erhöhten psychischen Belastungen, selbstverletzendem Verhalten, Depression, Substanzgebrauch und Suizidgedanken und -versuchen führen können.

Identität schafft Vielfalt

Ziel muss sein, Menschen in ihrer Vielfältigkeit wahrzunehmen und Möglichkeiten der Vereinbarkeit zu schaffen. Hierfür bedarf es struktureller Lösungen – beginnend bei Teilhabemöglichkeiten in allen gesellschaftlichen Bereichen, wie Vereinsstrukturen, einer angemessenen Tarifierung von Care-Berufen, einer veränderten Ansprache in Formularen bis hin zu einem Werteumdenken – Scheitern als selbstverständlichen Bestandteil von Lebensbereichen anzunehmen, den Druck rauszunehmen.

Wie funktioniert eine geschlechtergerechte Suchtprävention? In erster Linie damit, dass Fachkräfte sich selbst und ihr „Doing Gender“ für die Praxis reflektieren. Denn typisch weiblich oder männlich sind keine fest definierten Merkmale, sondern eine soziale Konstruktion und die persönliche Geschlechtsidentität kann darüber hinaus gehen.

Am zweiten Tag des Forums standen weitere ausgewählte Themen der Suchtprävention im Fokus. Lesen Sie nachfolgend mehr:

Bewährtes und Neues aus und für die Suchtprävention

Mut machend startete der zweite Forums-Tag mit Dr. Tobias Rüther, LMU Klinikum München, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, der gleich zu Beginn feststellte: Fachkräfte der Suchtprävention sind die Guten! In seinem Vortrag stellte er die besonderen Merkmale der E-Zigarette sowie ihr Potenzial für die Tabakentwöhnung vor. Nach Heroin und Kokain hat Tabak das höchste Suchtpotenzial. Vor allem das psychologische Suchtpotenzial in Verbindung mit Schlüsselreizen ist hoch – die Zigarette zum Kaffee ist ein bekanntes Bild. Die E-Zigarette, bei der ein flüssiges Chemikaliengemisch verdampft wird, ist nicht gesund aber im Vergleich zur Tabakzigarette weniger schädlich und hat ein geringeres Suchtpotenzial. Nicht zum Rauchstopp motivierten Raucher*innen kann deshalb geraten werden, vollständig auf E-Zigaretten umzusteigen. Die höchste Erfolgschance für einen Rauchstopp hat weiterhin die professionelle Tabakentwöhnung. Neben verhältnispräventiven Maßnahmen, wie gesetzliche Regulierungen, sollte die Attraktivität der Angebote zur Entwöhnung gesteigert werden, so das Fazit von Dr. Rüther.

Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme zum Cannabiskonsum und zur Cannabisprävention gab Prof. Dr. Oliver Pogarell, LMU Klinikum München, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Substanz. Der Trend zeigt einen stetigen Anstieg unter den 18 – 24-Jährigen beim Konsum von illegalen Substanzen, der im Wesentlichen auf den Anteil des Cannabis-Konsums zurück zu führen ist. „Es ist wichtig, die Folgen von hochpotentem Cannabis und neuen Produkten für die öffentliche Gesundheit zu verstehen“, so eine Schlussfolgerung. Prävention, Kurzinterventionen, Therapie und Schadensminimierung müssen dabei ineinandergreifen. Theoriegestützte, interaktive Präventionsprogramme an Schulen, die Eltern einschließen, erscheinen wirkungsvoll.

Der Ruf nach Evaluation und Evidenzbasierung

Interventionen der Suchtprävention müssen zielgerichtet sein, auf aktuellen, bestmöglichen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, die Erfahrungen der Fachkräfte einbeziehen und nicht zuletzt das Wissen der Zielgruppe nutzen. Einen Beitrag hierzu liefern die Ergebnisse der BZgA-Expertise zur Suchtprävention 2020. Die Expertise fasst den neusten Stand der Wissenschaft zur Wirksamkeit suchtpräventiver Ansätze mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in verschiedenen Settings, mit unterschiedlichen Ansätzen und im Hinblick auf den Konsum verschiedener Substanzen zusammen. Prof. Dr. Anneke Bühler, Hochschule Kempten, Fakultät Soziales und Gesundheit, stellte Kernergebnisse der Veröffentlichung vor und schlussfolgerte: „Suchtprävention hat präventive Effekte, wenn mit bestimmten Alters- und Konsumgruppen und mit bestimmten Methoden gearbeitet wird. Die Effekte sind wie in der Prävention üblich – klein.“ Mit dem Nachweis dieses Erfolgs sei die Suchtprävention jedoch vielen anderen Bereichen voraus. Bei allen Limitationen ist eine umfassende Begleitforschung präventiver Konzepte nötig, um Ressourcen für erfolgsversprechende Ansätze einsetzen zu können. Mit der Evaluierung von Konzepten zur Achtsamkeit in der Suchtprävention und -therapie konnte Dr. Nicolas Arnaud den Teilnehmer*innen weitere Ergebnisse zum Wirksamkeitsnachweis aufzeigen.

Unsere Identität, mit all den Hürden und Herausforderungen in ihrer Entwicklung, beeinflusst unser Verhalten, wie auch umgekehrt. Entscheidend sind zugleich die gesellschaftlichen Strukturen und Rahmenbedingungen und so bleiben Verhaltens- und Verhältnisprävention weiterhin die essentiellen Ansätze der Prävention, die ineinandergreifen müssen um gesundheitliche und strukturelle Veränderungen herbeizuführen.